Buchvorstellung: “Der Schlund“

Das Buch hatte mir meine Religionslehrerin Frau Güttler gegeben, und die tagesaktuelle Lage war sowieso recht brisant — der Bundeskanzler hatte den “Aufstand der Anständigen” nach Gewinnen der DVU gefordert und es war auch sonst einiges los.

Frau Güttler meinte zu meiner Kritik, dass es doch nur ein Buch für Jugendliche ist. Sie hatte Recht: Zu schade, dass solche Werke immer unterschätzt werden, sie sind oft prägnanter als manches “Erwachsenenbuch”.

Buchvorstellung: “Der Schlund“

Es gibt wieder Faschismus in Deutschland. Oder immer noch? Dass es wahrscheinlich noch nie ein Deutschland ohne Faschismus gab, dürfte wohl für niemanden mehr neu sein.

Neu ist auch nicht das hier vorgestellte Buch „Der Schlund“. Im Ersterscheinungsjahr 1993 gab es noch viele, die – stolz auf ihr Land – behauptet haben, dass hier niemand zu stolz auf sein Land ist. Dass dies lange davor nicht so war, 1993 nicht und heute erst recht nicht, ist vielmehr die bittere Wahrheit. Noch deutlicher wird dies beim Lesen dieses Buches. „Die Welle“ beschrieb, dass es prinzipiell immer und ständig möglich ist. Gudrun Pausewang zeigt, wie es ist, wenn, wieder einmal, aufgeblasener Nationalstolz, Hass und Angst auf und vor allem Fremden und leere Parolen die Macht ergreifen, bzw. wiedererlangen.

Das Buch erschien vor den DVU-Stimmen, vor „alltäglichen“ Ausländerhetzen und trotzdem sind sie hier beschrieben: eine rechte Partei, die Stimmen bekommt, bis die ihre Diktatur bekommt. Der Ausschluss von Andersaussehenden, Andersdenkenden, von allem Fremden, letztendlich gesteckt in „Umerziehungslager“.

Die Ereignisse in diesem Buch sind nicht eine Übertragung des Nazi-Regimes auf unsere Zeit – es ist das Nazi-Regime in unserer Zeit. Alles ist vorhanden: als Umerziehungslager getarnte KZs, strengst organisierte Jugend, Arbeit für alle (eine Mauer rings um Deutschland!), Bücherverbrennungen, die fast vollständige Unterwerfung aller, die Schaffung eines Führerkults, sogar ein Attentat auf diesen „Führer“ fehlt nicht.

Diese Geschehnisse, heute greifbarer als 1993, sind gleichzeitiger Plus- und Negativpunkt dieses Buches. Natürlich ist es erschreckend anzusehen, worauf wir uns zubewegen könnten. Aber für den, der nur ein wenig mit den Ereignissen ab 1933 vertraut ist, fehlt etwas wirklich Überraschendes. Etwas Neues, das aufzeigen könnte, das es eben jetzt und nicht vor 60 Jahren spielt. Dementsprechend einfach, geradezu arg stereotyp sind die Hauptfiguren dargestellt. Ein Großvater als Ehrenmitglied von immer extremer rechteren Parteien. Dagegen der andere Großvater, schon immer Gegner solcher Gesinnungen. Der Onkel als Kleiderhersteller, der bald sehr erfolgreich auf Uniformen umsteigt. Dagegen der Vater, ein Schriftsteller, der bald ins Exil nach Prag gehen muss („Ein Deutscher als politischer Flüchtling in den ehemaligen Ostblock, welch Ironie!“). Auf der einen Seite eine Familie, die ihr Leben für das neue alte System geben würde. Auf der anderen Seite eine Familie, die das ihre geben würde, um es wieder abzuschaffen. Doch diese und alle anderen Stereotypen haben immerhin eine Funktion – so werden die Geschehnisse allgemeingültiger reflektiert als es bei detailliert ausgeformten Rollen einerseits und bei bloßer Beschreibung der Politik andererseits möglich wäre.

Doch das allein reicht nicht. Der Leser vermisst Reaktionen aus anderen Bereichen des Lebens, aus der Wirtschaft, der Kultur und was um Himmels Willen treiben die Satiriker? Wahrscheinlich um die Taten der Hauptfiguren stärker in den Vordergrund zu spielen gibt es kaum eine Regung gegen die steigende Ausländerfeindlichkeit: kein „Rock gegen Rechts“, keine Lichterketten, keine Gegendemonstrationen. Die „paar Juden“, die es noch gibt, sind sofort weg. In unserer Wirklichkeit haben sie gerade erklärt, dass sie nicht gehen werden, sondern die, die nicht mit ihnen leben können. Doch dies sind die einzigen wichtigen Unterschiede zu unserer augenblicklichen Lage.

Denn der nachhaltige Eindruck besteht bei diesem acht Jahre Werk nicht in der Erzählung an sich, sondern in der Frage „Sind die Geschehnisse in unserem Land wirklich so leicht vorauszusehen?“

Ich starr in den Schlund / bis hinab auf den Grund / und kann mich nicht rühren vor Grauen. / Und höb doch so gern / meinen Blick zu dem Stern, / zur Sonne, zum Himmel, dem blauen. / Ich starr in den Schlund, / in die Schwärze am Grund: / Gewürm, Gewalt, Verderben. / Ich hör mich schrei’n: / Stoßt mich nicht hinein! / Nein, so will ich nicht sterben! …“
‑Das äthiopische Adoptivkind Jirgalem mit dem „Titellied“

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