Sind doch alles Spießer
Nun aber: Mein erster Artikel für die UnAufgefordert. Natürlich einige hundert Zeichen zu lang und wurde dementsprechend in der veröffentlichten Fassung gekürzt. Hier die eingereichte Fassung, die ich aber schon beim Schreiben knapper hielt, als es das Thema verdient hätte…
Sind doch alles Spießer
1990, die DDR bewegt sich ihrem Ende zu, als es in Ost-Berlin zu mehreren Hausbesetzungen kommt. So auch in der Kinzigstraße 9 in Friedrichshain — in dem Gebäude, das gesprengt werden sollte, lassen sich im Vorderhaus Punks nieder, Seitenflügel und Hinterhaus werden von Studi-WGs belegt.
Auch jetzt verbreitet die Straßenfassade einen schmutzigen Charme; der Stuck um die Fenster zerbröckelt. Das Café mit dem geschriebenen Schriftzug “Liberación” und die Klingelschilder, auf denen nur Buchstaben und Zahlen stehen, zeugen von den rebellischen Anfängen. All das ist vor allem eines: Fassade. Im Hinterhof erstrahlt das Gebäude in frischem Gelb und Klinkerfassade, eine Küche ist mit glänzendem Holzparkett ausgelegt und bietet bequeme Sofas. Dort erzählt Ane Betten, die seit neun Jahren in dem Hausprojekt wohnt, von der Geschichte und vom Leben in der “K9”.
Im Oktober 1996 wird das Vorderhaus polizeilich geräumt und die übrigen BewohnerInnen, hauptsächlich Studierende, entschließen sich, ihr Wohnen auf legalen Boden zu stellen. Schon 1992 hatten sie Mietverträge erhalten, nun wurde das Gebäude gekauft. Die Mietergenossenschaft “Selbstbau e.G.” erwarb es 1998 von der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain und verpachtete es ihrerseits für 30 Jahre an die BewohnerInnen. Für die Pacht und die Abbezahlung von Krediten zahlen sie monatlich Miete, derzeit 232 Euro. Von 1998 bis 2001 sanierten sie das denkmalgeschützte Haus. 6,2 Mio DM hat die Instandsetzung gekostet, 40% wurden über Fördergelder des Senats bezuschusst.
Mit der malerischen Kulisse von St. Turini als Fototapete im Hintergrund erläutert Ane die Hausgemeinschaft: Hier besitzen alle ein eigenes Zimmer und jeweils fünf bis sieben Personen ordnen sich den Küchen zu. In einem Gemeinschaftsraum trifft man sich sonntags, um den aktuellen “Tatort” zu sehen. “Seitdem ich in der Kneipe arbeite, schaffe ich das leider nicht mehr”, sagt Ane etwas enttäuscht. Doch das Leben in der K9 ist auch ein Wohnen in Selbstverwaltung und das muss organisiert werden. So treffen sich die 36 Bewohner und Bewohnerinnen einmal in der Woche zu einem Plenum; im Konsensprinzip wird dabei so lange diskutiert, bis für alle akzeptable Entscheidungen stehen. Daneben werden über Mailingliste und teils meterlange Aushänge Zuständigkeiten und Termine verteilt. In Arbeitsgruppen kümmern sie sich um Teilbereiche wie Buchhaltung, Verwaltung und die Organisation der Veranstaltungsetagen und der Remise im Hof. Die Etage mit der Bezeichnung “Größenwahn” ist mit Tresen, Beamer, Musikanlage, DVD-Spieler und Leinwand für Workshops, Seminare und Diskussionen ausgestattet. “Leichtsinn” ist ein schwarz gestrichener Partykeller mit Schallisolierung. Die Nutzung der Räumlichkeiten ist vielfältig und reicht von politischen Veranstaltungen zu kulturellen und wieder zurück. So fand hier die Tagung eines deutsch-israelischen Austauschs statt und am 16. November wird der Küchensänger Siggi Stern auftreten. Im August war die K9 Homebase für das Ladyfest, einer Präsentation feministischer und queerer Kunst.
Ein Hausprojekt mit politischem Anspruch — so verstehen sich die Leute von der K9. Jedoch gab es in letzter Zeit weniger eigene Veranstaltungen als früher, was an der stärkeren beruflichen Auslastung der Bewohner und Bewohnerinnen liegt: Der Großteil der Studierenden ist inzwischen zu Doktoranden geworden, das Durchschnittsalter liegt ungefähr bei 33. Dazu kommen sechs Kinder, das älteste ist sechs Jahre alt. “Halbe Kinder” werden sie scherzhaft genannt, denn nur ein Elternteil wohnt in dem Hausprojekt. Auch Ane ist Mutter — und sie studiert Gender Studies und Europäische Ethnologische an der HU, woran das das Haus nicht unschuldig: Bei ihrer Vorstellung wurde sie mit der Frage “Was hältst du von Politik?” überrumpelt, doch durch das Zusammenleben mit Studierenden entschied sie sich für Abi und Studium einerseits und für politische Arbeit andererseits. Das Leben hier hat nicht nur das Haus, sondern auch seine Menschen verändert. Ob sie sich vorstellen können, in diesem Haus alt zu werden? Da lächelt sie: “Darüber haben wir tatsächlich neulich im Plenum gesprochen.” Noch gibt es keine konkreten Planungen, aber ein gemeinsames Projekt auf dem Land scheint sie anzusprechen, die ehemaligen Hausbesetzer und Studierenden von der K9.