Ideeller Sieg

Es stimmt: Eine gute Glosse zu schreiben, ist keine leichte Arbeit. Als auf dem Bebelplatz vor der Humboldt-Uni ein riesiger Bücherstapel aufgestellt wurde, übernahm ich das Thema für die UnAufgefordert und hangelte mich über verschiedene Ansätze. Benjamin von der Chefredaktion half mir, was aber nichts daran änderte, dass auch hier der Text in der Schlussredaktion geändert wurde. Nun, wie auch immer: Jedenfalls gab es tatsächlich einen Leserbrief zur Glosse, der darauf hinwies, dass kein Hinweis auf die Bücherverbrennung 1933 in der Glosse zu finden war. Zu Recht, wie ich finde — und fand: Meine eigene Version enthielt einen entsprechenden Abschnitt, die veröffentlichte Fassung nicht.

Ideeller Sieg

Die Welt zu Gast bei Freunden“ — wie ernst eine solche Marketingphrase in Zeiten einer Fußball-WM  genommen wird, kann durchaus überraschen: Wer sieht sich bei Freunden denn nicht gerne den Inhalt des Buchregals an? Für übergroße Wohnzimmer-Atmosphäre wäre kaum ein Ort in Berlin prädestinierter als der Bebelplatz, schließlich steht dort bereits die Kommode — ein Spitzname für die Königliche Bibliothek, in der die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität (HU) sitzt. Im passenden Maßstab liegt vor dem Gebäude seit 23. April ein Bücherstapel. Insgesamt 17 meterdicke Wälzer sind es: Oben ein Grass, ganz unten ein Goethe-Buch. Dazwischen tummelt sich die deutsche Mainstream-Weltliteratur der letzten 500 Jahre: Luther und Kant, Marx und die Gebrüder Grimm, Fontane und Mann liegen friedlich in der Gegend herum. Was soll das?

Die Skulptur „Der moderne Buchdruck“ bildet einen Teil des „Walk of Ideas“, der wiederum Bestandteil der Kampagne „Deutschland — Land der Ideen“ ist. Eine klare Position: Dies ist kein Land der Bodenschätze, der Wirtschaft oder der Wissenschaft — was das gegenüberliegende Hauptgebäude der HU durchaus nahe legen würde. Nein, wenn wir hier in Deutschland etwas haben, dann sind es Ideen. Konsequent und durchdacht.

Die Bücher, geformt aus dem „innovativen Kunststoff Neopor®“ — natürlich auch eine Idee Deutschlands -, sind ganz auf studentische Büchererfahrungen zugeschnitten: Wenn Haus 1 der Staatsbibliothek Unter den Linden die Leihstelle schließt, wenn Haus 2 am Potsdamer Platz voller Asbest steckt und die Universitätsbibliothek fern aller Wege liegt — dann müssen die Bücher an die frische Luft, greifbar für alle literaturbewanderten Riesen. Zwar sind es nur inhaltsleere Plastikbehälter, aber es ist ja der Gedanke, der zählt im Land der Ideen.

Leider gibt es kaum noch Riesen; auch die Literaturkenner sind selten: „Wer ist denn der Seghers?“ fragt eine ältere Frau beim Blick auf die Namen auf den Buchrücken. Anna Seghers ist gemeint, eine der Autorinnen und Autoren, deren Bücher am 10. Mai 1933 von Studierenden verbrannt worden sind. Dass dies geschah, steht in deutscher und englischer Sprache auf der großen Tafel neben dem Kunstwerk. Wo dies geschah, dagegen nicht. Aber wen verwundert es im Land der Ideen: Tatort war eben dieser Bebelplatz. Mit einer gläsernen Bodenfliese mit Blick auf leere Regale erinnert seit 1995 das Mahnmal „Bibliothek“ still und leise an das Ereignis. Wenige Personen sehen es sich zur Zeit an – weitaus mehr recken ihre Köpfe nach oben und freuen sich, wenn sie einen der großen deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen kennen.

Somit zeigt die Plastik ungewollt, welche Ideen Freunde haben, wenn die Welt zu Gast bei ihnen ist: Was sie zeigen wollen, kommt ins Regal. Ungeliebte Erinnerungen und anderer Unrat wird gerne unter den Teppich gekehrt.

Wenn dann die Welt zu Gast ist, zeigen wir ihr, welch tolle Ideen wir haben, welche großen Bücher. Und hoffen, dass sie nicht sehen, was gewissermaßen unter den Teppich des großen Wohnzimmers vor dem Hauptgebäude gekehrt wurde: Das Mahnmal „Bibliothek“, das an die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Bebelplatz erinnert.

So liegt er nun an der Baustelle unter den Linden, der Bücherberg. Wir drängeln uns über Umwege durch Menschenmassen, sehen nach oben und spüren: Die massigen Wälzer lassen die eigene Last auf dem Rücken gleich leichter erscheinen und auch der schwere Weg zum Wissen ist nicht mehr so anstrengend, wenn man nur Ideen braucht. Und die Ideen, das ist nun unmissverständlich, haben ein zu Hause. Gleich vor dem Hauptgebäude, neben der Kommode. Die Welt kann kommen.

Kommentar verfassen