Nur die Harten kommen in den Garten: Marzahn

Dass ich einmal einen durchaus wohlwollenden Artikel über Marzahn schreiben würde, könnte man wohlwollend als Zeichen meiner Lern- und Toleranzfähigkeit auslegen. Aber im Prinzip hatte ich mich nur der Prämisse des Titelthemas der UnAufgefordert gebeugt. Und so konnte ich mal mit Anna und Bruno reden und gleich einen Text daraus basteln. Wozu hat man denn Freunde? Blöd nur: „Bitte kein Foto von der Mühle nehmen, das ist überall drin“, hab ich gesagt. Und? Is drin …

Ein grüner Bezirk mit Einfamilienhäusern und gut-bürgerlicher Küche: Marzahn, das Zehlendorf des Ostens

Nur die Harten kommen in den Garten: Marzahn

[oder poetischer:]

Wo die Vergangenheit die Zukunft überholt hat

Da stehen doch die großen Plattenbauten“, das kommt bei dem Stichwort „Marzahn“ vielen in den Sinn, die den S‑Bahn-Ring als Zivilisationsgrenze wahrnehmen und den Bezirk fast an der Grenze zu Polen verorten. Sie denken an anonymes und trostloses Wohnen und Ausblicke auf grauen Beton und Stahl. Wer die Berliner Stadtmagazine liest, weiß dann vielleicht noch, dass irgendwo im Bezirk eine Windmühle steht, eingepfercht von Hochhäusern. Kein Grund also in die zusammengeschlossenen Teilbezirke Marzahn oder Hellersdorf zu gehen, vor allem nicht für Studierende. Das ist das Bild des Bezirkes. Aber wie ist er wirklich?

Marzahn ist toll!“ findet Anna. Sie kennt Marzahn von Kindheit an, hat hier gelebt und die Schule besucht. Danach begann sie Politikwissenschaft an der Freien Universität (FU) zu studieren und zog nach Friedrichshain. Marzahn besucht sie weiterhin, oft geht es in die linken Jugendclubs. „Die sind aber häufig dem Sparwahn des Senats zum Opfer gefallen“, beklagt sie. So gibt es nicht mehr den „Renner“, aber in der „Klinke“ kann man sie durchaus antreffen. Ihrem Freund Bruno – beide kennen sich schon seit Schulzeiten –, ist aufgefallen: „wenn hier Bands spielen, die man seit Jugendzeiten kennt, dann ist immer halb Marzahn anzutreffen, auch wenn sie inzwischen in Prenzlauer Berg oder Friedrichshain wohnen.“ Auf der Bühne stehen dann etwa Bands mit deutlich gelichtetem und ergrautem Haar, die dann „FDGB O(b)stbeat“ oder „Kolporteure“ heißen und ironisch Rockmusik alter Schule spielt. Es kann aber auch eine Schulband auftreten, die rockig-trotzig Musik spielt oder das Musikverständnis der Zuhörenden auf die Probe stellt.

Konzerte gibt es auch im Freizeitforum Marzahn, daneben hat es auch Lesungen, eine Schwimmhalle, Bowlingbahnen, Sportkurse und die Stadtteilbibliothek im Angebot. Dort hat Anna mehrfach Bücher gefunden, die es an der Uni-Bibliothek nicht gibt oder dort ausgeliehen waren: „Ich habe mindestens zwei Hausaufgaben damit gerettet.“ Das kulturelle Angebot in der „Erlebniswelt für Jung und Alt“ bezieht nicht unbedingt studentische Interessen mit ein: Fips Asmussen tritt regelmäßig auf und Frau Puppendoktor Pille aus dem DDR-Fernsehen ist im Dezember zu Gast.

Mit dem „Sojus“ hat zwar das günstigste Kino geschlossen, aber der Doppelbezirk hat mit „Kino Kiste“ noch ein kinematisches Kleinod zu bieten. Seit Jahren wird hier „Blutige Erdbeeren“, ein Streifen über die Studierendenrevolte 1968 gezeigt: jeden Samstag um 23:10 Uhr. Auch andere Kultfilme finden hier ihre Nische und für einen im Bezirk spielenden Film wie „Du bist nicht allein“ gibt es wahrscheinlich kaum ein passendes Ambiente. Daneben stehen hier Konzerte, Partys und Seniorenbrunchs auf dem Programm.

Grün hinter den Ohren

Für den Sommer empfiehlt Anna die Open-Air-Konzerte und Filmvorführungen im Schlosspark Biesdorf. Verschiedene Musikrichtungen und Zielgruppen tummeln sich dort: Punker sind genauso wie Gerhard Schöne anzutreffen und auch die Ost-Rocker von Renft traten auf. „Rock im Grünen“ ist der Name einer Jugendveranstaltung, die früher von einer katholischen Jugendgruppe veranstaltet worden ist und die in diesem Jahr ihr zehnjähriges Bestehen feierte. Inzwischen steht hinter den Aktivitäten ein Verein, womit laut Anna der religiöse Hintergrund verschleiert werden soll. Für sie gilt immer noch: „Wenn Christen rocken, dann brennt der Wald“. Aber egal, wer für abendliche Unterhaltung im Park gesorgt hat: Danach kann man zur Aufbesserung des eigenen Budgets die Plastikflaschen einsammeln, die von den Besucherinnen und Besuchern hinterlassen werden – ein durchaus einträgliches Geschäft, wie Anna und Bruno bestätigen.

Das Marzahner Platten-Image bringt es mit sich, dass man vor lauter Hochhäusern den Wald nicht sieht: Mit seinen 15 Prozent Grün- und Freiflächen steht der Bezirk Marzahn-Hellersdorf an dritter Stelle in Berlin. Anna betont: „Die Feinstaubbelastung ist deutlich geringer als in Mitte oder Friedrichshain“ und atmet zum Beweis tief ein. Auch Kommilitonen von Bruno fanden Gefallen an der Umgebung: „Die waren total begeistert“, denn ihr Referat konnten sie im Grünen vorbereiten. Besonders blütenreich wird es im Frühling im Erholungspark Marzahn, der mit den „Gärten der Welt“ bekannt geworden ist. In enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen Ländern sind thematische Anlagen und sogar ein Gewächshaus entstanden. Für den Chinesischen Garten wurden etwa Steine und Gebäudeteile aus China angeliefert und von chinesischen Fachkräften aufgebaut. Neben den asiatischen Gärten gibt es seit diesem Jahr einen Irrgarten und ein Labyrinth, die nach englischen Vorbildern errichtet worden sind. Eine Kreuzberger Freundin von Anna hat sich für den nächsten Sommer vorgenommen, den Erholungspark mit ihrem Kleinkind zu besuchen, um „Natur ohne Spritzen zu erleben.“

Der Stadtteil lässt sich gut mit dem Fahrrad erkunden. Geradezu ideal ist dafür das Wuhletal, das von Köpenick bis Ahrensfelde reicht und 20 Kilometer umfasst. Gefährdete Tier- und Pflanzenarten kann man hier ebenso entdecken wie Hügel, die es vor 20 Jahren noch nicht gab: Aus Bauschutt entstanden die Ahrensfelder Berge, von denen man einen weiten Blick auf die Umgebung hat: Auf Marzahn und Berlin in die eine Richtung und auf das Brandenburger Land in die andere Richtung. Ganz in der Nähe befindet sich der „Wuhletalwächter“: Ein 17,50 Meter hoher Kletterturm, der aus den Betonplatten von Balkonbrüstungen zusammengesetzt worden ist. Recycling á la Marzahn.

Von Bauern und Nazis

Das Dorf Marzahn steht mit seinen Bauernhäusern unbeirrt inmitten der Hochhaussiedlung, noch in seiner ursprünglichen Struktur. Die bis zu 250 Jahre alten Gebäude wurden in den 1980er Jahren rekonstruiert und stehen unter Denkmalschutz. In der alten Dorfschule befindet sich das Heimatmuseum, das auf die 700-jährige Geschichte des Dorfes zurückschaut. Im Tierhof sagt eine Mitarbeiterin: „Hier waren noch nie Studierende“. Es würde sich aber lohnen: Hier werden bedrohte Haustierrassen erhalten, historische Geräte vorgestellt und eine Fachbibliothek ist ebenfalls vorhanden. Ein Dorfkrug bietet „gut-bürgerliche Küche Berlin-Wien“, verschiedene Tierköpfe hängen an der Wand. Das Café im Dorf ist inzwischen geschlossen, dafür wirbt ein Bestattungsunternehmen auf einer Hauswand. Neben dem Dorf steht auf einem Hügel die Bockwindmühle, die 1994 erbaut worden ist. Wer möchte, kann hier sogar heiraten.

Nicht weit entfernt wurden zu den Olympischen Spielen 1936 Sinti und Roma in ein Lager gesperrt, zu Zwangsarbeit geschickt und schließlich deportiert. „Das Marzahner Lager gilt als Testlauf für die Konzentration und Vernichtung der Juden“, hat Anna in einer Hausarbeit herausgefunden. Im Parkfriedhof am S‑Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße erinnert heute der Sinti-Stein daran. Das erste Haus, das im Zweiten Weltkrieg von der roten Armee befreit worden war, steht ebenfalls in Marzahn. Das Gebäude mit entsprechender Inschrift kann heute an der Landsberger Allee besichtigt werden, gegenüber werden Straßenbahnen auf dem Betriebshof Marzahn startklar gemacht.

Was ist nun Marzahn? Hochhäuser, Kleingartenkolonien, Einfamilienhäuser, Dörfer, Parks und Hügel bilden teilweise eine eigenwillige Mischung. „Das ist total spannend! Wenn ich Stadtplanung studiert hätte, würde ich nur noch durch Marzahn laufen und Straßenkarten erstellen“, findet Anna. Bruno ergänzt, dass man sich selbst einen guten Überblick verschaffen könne und verweist auf die Hochhäuser am S‑Bahnhof Springpfuhl. Dort kann man vom Treppenhaus direkt auf einen Balkon gehen und einen Blick auf den jungen alten Bezirk werfen. Vom Alexanderplatz braucht man nach Marzahn und Hellersdorf allen Unkenrufen zum Trotz nur 20 Minuten.  Anna hat inzwischen einige Kommilitonen überzeugen können: „Es wollen relativ viele eine geführte Radtour durch Marzahn machen.“ Im Frühjahr geht es los. Im Moment ist es schließlich nur kalt und grau hier.

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