Ein Leben

An diesem Text habe ich ziemlich lange gesessen. 2005 hatte ich die Idee, die auf Erfahrungen und Inspirationen in den Gender Studies beruhte und begann mit einer ersten Version. Der Arbeitstitel lautete „Nicht komplett“. Zu der Zeit las ich auch ziemlich viel Kafka und unter diesem Eindruck schrieb ich den Text soweit um, dass kaum etwas davon übrig blieb. Was zuvor explizit genannt wurde, war nun gerade noch vage zu erahnen und auch die Perspektive des Erzählers verschob sich etwas. Dass einige Stellen an „1984“ und vielleicht auch andere Science-Fiction-Klassiker erinnern, dürfte wahrscheinlich auch kein Zufall sein…

Ein Leben

Gynos verstand nicht. Es ist nicht ganz klar, ob er nicht konnte oder nicht wollte, aber dies spielt letztlich doch eine untergeordnete Rolle. Weitaus wichtiger erscheint das Ergebnis der vielen Gespräche, die er geführt hat, die vielen Untersuchungen, um die optimale Arbeitsstelle für seine Person zu finden. So mannigfaltig die Orte und unterschiedlich die Gesprächspartner, so eindeutig die Aussage, die jeweils am Ende stand: Nie hatte er die passende Aufgabe für sich gewählt, in keinem Fall hätte er seine Fähigkeiten, sein Wissen und sein Können für alle Seiten zufriedenstellend einsetzen können. Dies mag im jeweiligen Augenblick äußerst ungerecht erscheinen, doch würde er selbst immer wieder die detaillierte Arbeit der Optimal-Interpolatoren zu schätzen wissen – schließlich zielen sie mit ihrem feinen Abwägen angebotener und verlangter Fähigkeiten nicht nur auf eine fein justierte Gesellschaft, sondern vor allem auf ein erfülltes Leben jeder einzelnen Person darin ab. So erklärt sich auch die unermüdliche Suche von Gynos.

Gynos saß bei Reut, mit dem er einen überaus hohen Prozentsatz von Gemeinsamkeiten in Bezug auf Interessen, Vorlieben und Ablehnungen teilte. Sie wohnten im gleichen Wohndistrikt, hatten ein ähnliches Alter und nahmen regelmäßig mit Alkoholwirkstoffen versetzte Getränke im gleichen Trinklokal zu sich. Reut verstand besser als Gynos, doch bedeutete dies nicht, dass er deshalb Gynos verstanden hätte. Dies vermochte niemand, Gynos eingeschlossen. Reut verstand, wie sinnvoll und effizient die Arbeit, das Leben und der Rest organisiert waren und er verstand auch, dass die Optimal-Interpolatoren auch bei augenscheinlich ungerechtem Handeln in Wahrheit immer die richtigsten und optimalen Entscheidungen trafen.

Du hast eben noch nicht den richtigen Job gefunden. Der, der für dich gemacht ist“, wusste Reut auch dieses Mal. Gynos hatte von seinem letzten Versuch berichtet, eine Stelle zu bekommen; sie war ungenügend für sein Wesen bestimmt. Er hatte darauf verwiesen, dass er Jahrgangsbester in Bio-Tech gewesen war und seine weiteren Qualifikationen vorgebracht. Dass es ihm an entscheidender Stelle mangelte, hatte er auch diesmal nicht begriffen. Stattdessen fühlte er eine Wut, die aus seiner persönlicher Sicht unter gewissen Umständen nachvollziehbar hätte sein können, aber natürlich ohne jegliche tatsächliche Basis bestand. Und so musste Reut ihn erst an den Gleichheitskodex erinnern: „Gleichheit über alles für alle.“ Ungleichbehandlungen sind also ausgeschlossen, wenngleich es aus subjektiver Perspektive so scheinen mag. Aber dies ist nur Schein – ein Schein, in dem Gynos lebte.

Gynos ging nach Hause, einige Stationen mit der Schnellbahn, mit Aufzügen hinunter in die Ebene. Dort würde er einige Minuten zu Fuß laufen, was seiner Konstitution zugute kommen würde. Die Ebene war ideal für Personen wie ihn, auch wenn es davon kaum jemanden gab: Jene mit noch ungepasstem Fähigkeit-Arbeit-Verhältnis. Straßen und Gebäude waren nicht unbedingt in optimalem Zustand, was aber niemanden störte, da die Verhältnisse schnell gepasst wurden und ein Umzug in höhere Sphären vonstatten ging.

Gynos ging vorbei an zerrissenen und verwaschenen Parolen der Intuitivisten. Die Behauptung „Interpolieren = Manipulieren“ war ebenso Geschichte wie die Bewegung selbst.Einigen Pfützen ausweichend näherte sich Gynos einer Ansammlung von Leuten.

Sie drängten sich, sie schoben und strömten in ein Gebäude. Es war außerordentlich farbig und von innen kam ein warmes, leuchtendes Licht. Mitgeschoben und mitgedrängt trat auch Gynos in den gewölbten Innenraum, dessen Decke sich wie eine Kuppel über das Innenleben erstreckte. Hier standen alle dicht an dicht. Gynos versuchte jemanden zu erkennen, aber beinahe peinlich berührt wurden Gesichter weggedreht, doch vielleicht lag es nur an den verschiedenen Schubbewegungen aus allen Richtungen.

Schon bald war der Raum nur noch eine wogende Masse aus Köpfen. Jemand betrat nach kurzer Zeit das Gewölbe. „Mein Name ist Solex“, erschallte die angenehm-autoritäre Stimme durch den Raum. „Ich möchte Sie recht herzlich begrüßen, meine Herren!“ Herren? Ein Raunen ging durch die Menge. Natürlich! Auch dieser Solex war eine männliche Person! Aber weshalb wies er darauf hin? „Hören Sie…“ Solex‘ Stimme ließ das Geraune ersterben. „… ich möchte nicht darum herum reden. Ich kenne Ihr Problem! Sie alle wurden von den Anstellungsorganen als nicht-optimal eingeschätzt.“ Unglaublich! Über diesen Umstand wurde für gewöhnlich so wenig gesprochen, wie er nicht vorhanden war. Und diese unfassbare Frechheit, das als „Problem“ darzustellen! Nicht die Anwesenden waren nicht-optimal, sondern die gewählten Berufe! Wie beschämend! Aber Solex fuhr fort: „Sie sollen wissen: Ich bin auch abgelehnt worden.“ Er zupfte kurz am Hemd über seinem Bauch. „Und wäre es noch immer, wenn ich nicht verstanden hätte. Wenn ich nicht den wahren Grund erfahren hätte. Fragen Sie sich eines: Wurden Sie erfolgreich maternisiert?“

Nach einer Schrecksekunde begann es unruhig zu werden. Aus der mehr und mehr brodelnden Stimmung stachen Ausrufe immer wieder hervor: „…Intimspähre verletzt…“ und „…Gleichheit über alles…“

Solex verschaffte sich etwas Gehör: „Bitte, bitte, ich möchte Ihnen doch nur helfen, denken Sie doch nur…“ Eine aggressive Stimme schallte zurück: „Helfen? Die Maternisierung hat für Gleichheit gesorgt, die Optis für unseren Wohlstand! Lass uns in Ruhe, du Intuitivist!“

Gynos wachte in Schweiß gebadet auf, als am Morgen pünktlich um sieben Uhr der allgemeine Weckruf ertönte. Er stand nicht sogleich auf, um sich zu waschen, anzukleiden und aktiv seine Lebensplanung zu verfolgen. All dies tat er nicht. Er blieb liegen, an die Decke starrend musste er an seine Maternisierung denken. Wie bei allen geschah sie in frühester Kindheit, einige Zeit nach der Geburt. Etwas hatte nicht richtig funktioniert – und er war fortan kein vollständiger Mensch. Seine Fähigkeiten würden begrenzt bleiben, nie würde er sich frei entscheiden können, immer würde dieser Makel, dieses Stigma, an ihm haften.

Was aber keinesfalls ein schlechtes Leben bedeutete: Er hatte dieser Gesellschaft viel zu verdanken – er konnte wie ein normaler Mensch eine Ausbildung genießen und sogar an einigen Freizeitaktivitäten durfte er teilhaben. Während ihm selbstverständlich das Zusammenleben mit anderen Menschen verwehrt blieb, durfte er gute Bekanntschaften wie zu Reut pflegen. Um der Gemeinschaft auf andere Weise zu nutzen, hatte er sich in das BioTech-Studium gestürzt und gelernt, was es zu diesem Thema gab. Vielleicht gelang es ihm dadurch irgendwann, Fälle wie den seinen zu verhindern. Wenn ihn ein Interpolator zu gegebener Zeit an gegebenem Ort zu gegebenen Umständen als optimal einstufen würde.

Aber wenn dieser Solex Recht hatte… Wenn seine fehlende Maternisierung immer ein Ablehnungsgrund war und sein sollte – ja, was bedeutete das dann?
Er stand auf und begann sich zu waschen.

Gynos betrat den langgestreckten Raum, der bis zum anderen Ende mit Bedienelementen gefüllt war. Ein Herzstück der Optimal-Interpolatoren: Hierher kamen Qualifikationen, die nicht bereits im Kindesalter gepasst wurden oder sich im Laufe der Zeit verändert hatte. Ein allumfassendes Brummen verriet, dass ständig gerechnet und interpoliert wurde: Effizient wurde die Gleichheit der Menschen ermöglicht. An der nächsten Findungsmaschine nahm Gynos Platz; ein freundliches Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Das System analysierte den Gemütszustand des Benutzenden anhand von Gesichtsausdruck, Körpertemperatur, Schweißausstoß und weiteren Parametern und erstellte ein passendes Gesicht mit der genau passenden Stimme. Dies war eine relativ neue Errungenschaft der Interpolationswissenschaft und wurde bereits in vielen Personalstellen eingesetzt. „Guten Tag“ — eine schöne Stimme begrüßte ihn, möglicherweise die schönste Stimme seit langem. Sein letzter Aufenthalt an einem solchen Instrument war nicht sehr lange her, aber einen solchen schönen Klang hatte er nicht in Erinnerung. Inzwischen wurde wohl auch die Stimme angepasst.

Wie Sie vor siebzehn Tagen erfahren hatten, interessierte sich der Testbereich von techgenetischem Spielzeug für Sie.“ Ein Nebeneffekt der künstlichen JobPartner war natürlich, dass ihnen überhaupt nicht anzumerken war, ob das Gesuch erfolgreich gewesen war oder nicht. Trotz ihres menschlichen Antlitzes blieben sie doch Maschinen. „Ach, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, wie unhöflich von mir! Ich bin J.P. III, aber Sie dürfen mich J.P. nennen. Also, zu ihrer Bewerbung: Ich muss Ihnen zu meinem großen Bedauern mitteilen, dass diese Anstellung nur ganz knapp Ihre Qualifizierung verfehlt. Sie werden sicherlich schon bald eine lohnendere Stelle finden, für das Gemeinwesen – und für sich selbst. Aber das ist ja selbstverständlich, oder. Ha Ha. Wenn Sie jedenfalls noch Fragen haben sollten, können Sie diese jetzt stellen.“

Gynos war angesichts der sachlichen Bilanz zusammengesunken. Dieser Job war in seinen Augen mit einer der niedrigsten Qualifikation verbunden. Er fragte den JobPartner nach einer Aufschlüsselung der Qualifikationsbilanz. Das Aussehen J.P.s änderte sich dabei fast unmerklich: „Nun, die genauen Algorithmen sind aus Sicherheitsgründen nicht frei zugänglich.“ Die Stimme klang fester, nüchterner. Vielleicht bildete sich das Gynos aber nur ein. „Nur soviel: Was das Fachwissen angeht, da haben Sie echt was drauf. Sie sind schon ein ganz Schlauer, was. He He. Aber scheinbar war diese Tätigkeit für andere Person optimaler. Vielleicht möchten Sie eine neue Probe entnehmen lassen. Mit aktuellen Daten gelingt die Interpolation gleich viel akkurater.“ Gynos befühlte die Narben auf seinem Bauch. Er musste an die letzte Nacht denken, an den Traum, an Solex. Er würde nun tun, was einem friedlichen und gesunden Zusammenleben der Menschen am meisten zuwiderlief, all ihre Grundsätze in Frage stellte und darum unweigerlich Konsequenzen nach sich ziehen musste. Nachdem er sich die Augen gerieben hatte, sprach Gynos sein elektronisches Gegenüber auf die Auswirkungen seiner ausgebliebenen Maternisierung an. Die Konsequenzen blieben nicht aus.

Gynos erwachte, in seinem Kopf dröhnte es. Sein Magen schmerzte. Er fragte sich, wo oben, wo unten war – wo er überhaupt war. Er konnte sich nicht erinnern… Mühsam öffnete er die Augen… Eine graue Wand… Und er lag offenbar auf dem Boden. Mit den Händen versuchte er sich aufzurichten… Seine Hände… Die rechte lag unter seinem Gesicht, speichelbedeckt und halb taub; die linke befand sich unter seinem Körper. Nach mühseligen Versuchen standen sie ihm wieder zur Verfügung und er konnte sich zumindest aufsetzen. Gynos blickte sich um, er sah jedoch nicht mehr als zuvor: Eine schimmernd graue Wand wölbte sich über ihn, unter ihm befand ich der ausreichend weiche Boden. Als er sich auf die Beine stellen wollte, schob sich eine unsichtbar eingelassene Tür mit einem zarten Zischen auf. Zwei Personen betraten den Raum. „Wie ich sehe, sind Sie aufgewacht. Sehr schön, dann können Sie mir zuhören.“ Gynos blinzelte, er versuchte durch den stechenden Lichtschein den Sprechenden zu erkennen. Diese Stimme kam ihm vertraut vor. „Sie denken jetzt wohl, Sie kennen mich. Nun, gesehen haben Sie mich zumindest. Wenn man das so nennen kann.“ Die Stimme konnte einen amüsierten Ton kaum unterdrücken. „Personen wie Sie lassen wir leben, man ist ja kein Unmensch. Aber wie bei allen Leuten stimulieren wir das Unterbewusstsein, wir testen damit die Bereitschaft zu anormalem Denken. Und das äußert sich zunächst in Träumen und kann in letzter Instanz das Handeln beeinflussen. Denken Sie nur an die Intuitivisten! Eine Rebellion, erschaffen von uns in den Köpfen potentieller Rebellen, die dann tatsächlich Parolen schmierten. Verrückt. Oder denken Sie an mich! Erstaunlich, welch exakte Bilder wir hervorrufen können, nicht wahr? Und wir bekommen auch etwas dafür: Viele Informationen. Je mehr Informationen, desto genauer, desto besser. Ganz einfach. Darauf basiert all dieses Interpolations-Zeugs.

Aber was ist mit mir? Es ist meine Maternisierung, nicht wahr?“, brachte Gynos schließlich hervor.
„Ich sehe, sie haben gefunden worum es geht. Gut! Jeder strebt doch danach, die eigene Unvollkommenheit zu überwinden. Früher taten wir es mit einer anderen Art von Menschen – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Man konnte das nie vorhersagen. Doch nun verfügen wir über die Maternisierung, jetzt können wir uns selbst komplettieren. Vollständig wie wir sind, können wir uns im Leben auf andere Dinge konzentrieren. Unsere Gesellschaft ist nicht mehr gespalten wie früher. Sie dagegen sind nicht maternisiert und werden stets auf der Suche nach Ihrer Vervollständigung sein. Doch es gibt keine Hoffnung für Ihresgleichen. Sie werden also stets suchend, unvollkommen und unglücklich sein. Das aber können wir uns nicht erlauben, wenn wir Gleiche unter Gleichen sein wollen – und das ist doch die einzig mögliche Vorraussetzung für Frieden und Zukunft. Wollen Sie der Zukunft im Wege stehen, nur weil Sie keine haben? Die natürliche Auslese haben wir durch eine techgenetische ersetzt, die weitaus effizienter und akkurater funktioniert. Vielleicht begreifen Sie es endlich: Sie sind kein Mensch, nicht einmal ein unvollständiger. Sie sind gar keiner. Vielleicht verstehen Sie jetzt.“
Gynos versuchte es. Als ein Brummen den grauen Raum erfüllte, war der Mensch schon draußen.
„Zu schade. Mit seinem Können hätte so ein Fall verhindert werden können“, meinte er auf dem Weg zu seiner nächsten Aufgabe.

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